Neue Perspektiven der interreligiösen Verständigung – eine nähere Betrachtung

Als im April 2014 ein Mitglied der geistlichen Schicht Irans der weltweiten Bahá’í-Gemeinde eine kalligrafische Darstellung von Worten Bahá’u’lláhs, des Stifters der Bahá’í-Religion, zum Geschenk machte, war dies ein beispielloser Akt und stand in scharfem Gegensatz zu einer über 170 Jahre ununterbrochenen religiösen Verfolgung. 
Das Geschenk von Ayatollah Hamid Masoumi Tehrani war an sich in hohem Maße bemerkenswert. Doch für die Bahá’í ist es vor allem die ihm zugrundeliegende Motivation, die Beifall und Beachtung verdient.Die Tatsache, dass er in der Vergangenheit ähnliche Schritte der Annäherung gegenüber Christen unternommen hat, weist auf ein Herzensanliegen hin, das Miteinander in seinem Heimatland zu fördern. Hierbei ist er nicht allein; es sind Scharen in Iran und überall in der Welt, die sich nach Frieden und Einklang sehnen. Die meisten bekennen, dass sie selbst nicht wissen, wie dies erreicht werden kann.
Die jüngste Welle von Kommentaren und Antworten, die religiöse Repräsentanten weltweit zum Thema des friedlichen Miteinanders geäußert haben, bietet Anlass, die historischen Umstände, die dem Akt des Geschenks dieses hochrangigen Geistlichen vorrangigen, zu würdigen.
Historischer Kontext
Seit 1844, als der Bahá’í-Glaube begründet wurde, haben seine Anhänger unter den aufeinander folgenden Regierungen eine endlose Welle von Verfolgungen erleiden müssen. Mehr als 20.000 wurden wegen ihrer Glaubensüberzeugung getötet und Abertausende erduldeten ungerechte Haftstrafen. Hinrichtungen, Mord, Folter und gewalttätige Übergriffe zählen zu den offenen Formen Verfolgung.
Aber die Verfolgung der Bahá’í im Iran nahm auch andere Formen an: ausgedehnte Enteignung von Besitz, von administrativen Zentren und Heiligtümern; Entweihung einiger der heiligsten Stätten der Gemeinde sowie von Friedhöfen; Vandalismus in Wohnungen, dabei auch Brandstiftung; Schikanieren von Bahá’í-Kindern in ihren Schulklassen; Verbreitung grober Falschdarstellungen der Lehren und Geschichte der Bahá’í in schulischem Unterrichtsmaterial; Ausschluss der Jugend von Hochschulstudium; willkürlicher Entzug von gewerblichen Konzessionen; Schließung von Geschäften; und die Liste ist noch nicht zu Ende.
Bis zum heutigen Tag werden die Bahá’í regelmäßig in staatlich geförderten Medien als religiöse Häretiker dargestellt, mit Unmoral und okkulten religiösen Zeremonien in Verbindung gebracht. Gleichzeitig werden sie regelmäßig beschuldigt, Spione verschiedener Regierungen zu sein. Und wiederholt haben religiöse Führer Bevölkerungsgruppen zur Gewalt gegen die Gemeinde angestiftet, die ungestraft blieb.
Seit 1979 sind mehr als 200 iranische Bahá’í getötet worden, und hunderte andere sind gefoltert und eingekerkert worden. Und wie viele der Täter dieser abscheulichen Verbrechen sind in den Jahren seit der Revolution zur Rechenschaft gezogen worden? Die Antwortet lautet: keiner.
Die Verfolgung der Bahá’í ist eine Politik der Regierung dieses Landes, und es sind keine Anzeichen der Verbesserung zu erkennen. Im Wesentlichen jedoch ist es die religiöse Führung im Iran, die für das Schüren von Vorurteil und Hass in der Bevölkerung gegen die Bahá’í-Gemeinde verantwortlich ist. Ein Memorandum der iranischen Regierung, das1993 durchgesickert ist und das darauf hinweist, dass der Fortschritt der Bahá’í in der iranischen Gesellschaft wirksam „blockiert“ werden soll, trug die Unterschrift der ranghöchsten religiösen Figur des Landes, Ali Khamenei. In jüngerer Zeit hat dieser eine Fatwa erlassen, in der den Menschen im Iran auferlegt wurde, jeglichen Kontakt mit Bahá’í zu vermeiden.
Vor dem Hintergrund blinden religiösen Vorurteils, befeuert durch geistliche Führer, wirft Ayatollah Tehrani als erster ranghoher Kleriker im nachrevolutionären Iran mit seiner Kalligraphie ein Schlaglicht auf eine zentrale Glaubenslehre der Bahá‘í, dem heiligsten Text des Glaubens entnommen, sowie auf das Recht der Gemeinde, ihre Religion in ihrem Ursprungsland zu praktizieren.
 In den darauf folgenden Monaten zeigte es sich,  wie seine Geste  bei Menschen guten Willens einen positiven Widerhall fand, einschließlich Oberhäuptern eines breiten Spektrums von Religionen und Konfessionen, Akademikern, Journalisten und Menschenrechtsvertretern – sowohl im Iran als auch weltweit.
Einen Monat nach der Überreichung des Geschenks erhoben eine Anzahl prominenter Wortführer der Menschenrechte im Iran – erstmals gemeinschaftlich – ihre Stimmen zur Unterstützung der Bahá’í und ihrer sieben inhaftierten ehemaligen Führungsmitglieder am sechsten Jahrestag ihrer Inhaftierung. An diesem Treffen nahm auch Ayatollah Tehrani teil, wo er äußerte, „Perspektiven müssen geändert werden … und ich glaube, dass jetzt der Moment dafür günstig ist.“
Auch außerhalb des Irans hat die Initiative von Ayatollah Tehrani hochrangige offizielle Vertreter in der islamischen Welt zu positiven Reaktionen inspiriert; dies wiederum gab dem Diskurs über das in ihren Ländern sich gestaltende religiöse Zusammenleben weiteren Impuls.
Diese Ergebnisse haben die Bahá’í-Gemeinde berührt. Nicht wegen bestimmter Änderungen ihrer Lage im Iran, zumal Berichte aus jüngster Zeit eher auf eine Verschärfung der Verfolgung der Bahá’í-Gemeinde in den letzten Monaten hindeuten, sondern weil diese Ergebnisse eines der meist geschätzten Anliegen der Bahá’í seit den Anfängen ihrer Religion betreffen.
Die Einheit der Religionen
Vor mehr als 100 Jahren, als ´Abdu’l-Bahá, Sohn Bahá’u’lláhs und Oberhaupt des Bahá’í-Glaubens nach Dessen Hinscheiden, sich für ein Jahr in Ägypten aufhielt, bevor er zu Seiner historischen Reise nach Westen aufbrach, spielte das Thema der religiösen Einheit oft eine Rolle in Seinen Begegnungen mit prominenten Personen und Medien.
Im Laufe seiner fortgesetzten Reise in Europa und Nordamerika wiederholte er bei vielen öffentlichen Ansprachen, dass so wie es eine Menschheit gibt, auch die Religionen eins seien. Während Religionen nach äußerer Form vielfältig sind, sei ihre Wirklichkeit eins, so wie es „viele Tage gibt, aber nur eine Sonne“.
In jüngerer Zeit hat das Universale Haus der Gerechtigkeit in seinem Schreiben an die Repräsentanten der Religionen der Welt im Jahr 2002 religiöses Vorurteil als eine zunehmend gefährliche Macht in der Welt bezeichnet.

„Mit jedem neuen Tag wächst die Gefahr, dass die auflodernden Feuer religiöser Vorurteile einen Weltbrand entfachen, dessen Folgen sich niemand ausmalen kann“, schrieb das Universale Haus der Gerechtigkeit. „Diese Krise erfordert von den Amtsträgern der Religionen einen ebenso entschiedenen Bruch mit der Vergangenheit, wie er bei der Überwindung der gleichermaßen zerstörerischen Vorurteile der Rasse, des Geschlechts oder der Nation in der Gesellschaft vollzogen wurde.“

Der Weg vor uns
Die Geschichte zeigt, dass selbst die geringste Tat weitreichende Konsequenzen haben kann. Obwohl der diesbezüglich vielleicht am häufigsten zitierte Vorfall – die Ermordung von Großherzog Ferdinand als Funke, der den Ersten Weltkrieg entzündete – ein negatives Beispiel ist, so ist es auch wahr, dass eine einzige selbstlose Tat zur Initialzündung der Steigerung des Bewusstseins werden kann, die letztlich den Fortschritt einer Gemeinde, einer Gesellschaft, einer Nation, der ganzen Welt antreibt.
Alle, die angesichts der Verwüstung, die zu dieser Stunde den Nahen Osten durchzieht, eine Lösung suchen, bekennen uneingeschränkt, dass den hartnäckigen Problemen, welche die Menschen dieser Region heimsuchen, sektiererische Vorurteile und Fanatismus zugrunde liegen. Die Handlung von Ayatollah Tehrani – eine Tat unter vielen, unternommen von Personen und Gruppen, die sich nach Frieden sehnen – enthüllt einen sich parallel entfaltenden Prozess im Gegensatz zu den Schrecken, die religiöser Extremismus der Welt zufügt. Dieser Prozess birgt in sich die Hoffnung auf konstruktiven Wandel und die Möglichkeit, dass in einer solchen Handlung ein Same erspäht werden kann, die, wenn sie gepflegt wird, sich zu einem Baum entwickelt, der sich wiederum zu einem Wald fortpflanzen wird.
 
(Quelle: http://news.bahai.org/story/1017)

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